10. November 2021
Vermittlungskonzepte, Wissenstransfer

Blick in den museum4punkt0-Praxisalltag: Sieben Fragen an das Team der Stiftung Deutsches Historisches Museum

Das Teilprojekt vermittelt spielerisch Geschichte als offenen Prozess! Wie genau verraten uns E. Breitkopf-Bruckschen, N. Hölmer und U. Kuschel

Hinter den Kulissen der Teilprojekte: „Vergangene Zukunft“ digital, Grafik: Stiftung Preußischer Kulturbesitz / museum4punkt0 / Julia Rhein, CC BY 4.0

Das Teilprojekt heißt „Vergangene Zukunft“ digital –  berichtet uns kurz zur Einführung, was Ihr vorhabt!

Unter dem Arbeitstitel „Vergangene Zukunft“ digital wollen wir erproben, inwiefern sich mithilfe von Gaming-Elementen Geschichte im Museum vermitteln lässt. Digitale Spiele mit historischen Handlungen sind schon lange äußerst populär. Andersherum betrachtet bietet der spielerische Zugang spannende Möglichkeiten, komplexe historische Zusammenhänge besser greifbar zu machen. Wir glauben, dass digitale Interaktion die nachhaltige Auseinandersetzung mit Geschichte fördern kann.

Konkret entwickeln wir einen Prototyp, der mit den Mitteln des Game Designs spielerisch und interaktiv die Offenheit geschichtlicher Prozesse sichtbar macht. Der Kerngedanke ist, dass der Geschichtsverlauf das Ergebnis konkreter Entscheidungen und Handlungen, aber teils auch von Zufällen ist. Wichtig ist uns dabei, die Inhalte auf solider wissenschaftlicher Basis zu recherchieren. Dies ist Ausgangs- und Bezugspunkt unserer Arbeit. Ebenso wichtig ist uns die Verknüpfung des digitalen Raums mit konkreten Sammlungsobjekten. Geplant ist eine digitale Anwendung, die im Museum installiert wird und unsere Gäste dazu einlädt, Geschichte spielerisch zu entdecken. Im März 2022 möchten wir diesen Prototyp unseren Besucher*innen vorstellen und gemeinsam mit ihnen testen.

Wie setzt sich Euer Team zusammen, welche Abteilungen des Museums bindet Ihr wie in den Konzeptions- und Entwicklungsprozess ein?

Wir sind zwar ein kleines Team, arbeiten aber eng mit vielen Kolleg*innen des Deutschen Historischen Museums und externen Expert*innen zusammen. Die Projektleitung teilen sich Fritz Backhaus, Abteilungsdirektor Sammlungen, und Elisabeth Breitkopf-Bruckschen, verantwortlich für Gremienarbeit und Kooperationen. Außerdem sind Niels Hölmer als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Ulrike Kuschel, verantwortlich für die Projektkoordination, an Bord. Wir arbeiten eng mit den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums zusammen und ganz wesentlich auch mit dem Team der Bildung und Vermittlung, das uns immer wieder wichtige Impulse für die Ansprache unserer Zielgruppen gibt. Spätestens wenn der Prototyp steht, hoffen wir natürlich, viele spielebegeisterte Kolleg*innen für einen Testdurchlauf gewinnen zu können.

Mit welchen Spiel-Prinzipien von „Serious Games“ möchtet Ihr historische Entscheidungen vermitteln und nacherleben lassen?

Spiel- und Lerninhalte miteinander zu verbinden – das ist das grundlegende Prinzip von Serious Games. Dieses Prinzip wollen wir nutzen und über einen spielerischen Ansatz die ernsthafte Auseinandersetzung mit Geschichte fördern. Bei unserer digitalen Anwendung können die Besucher*innen in Form einer Graphic Novel in die Rolle teils realer, teils fiktiver Personen schlüpfen, dabei selbst einen Tag von historischer Tragweite durchlaufen und konkrete Entscheidungen treffen, wodurch sie den Verlauf dieses Tages beeinflussen. Dabei bedienen wir uns bei Methoden einer kontrafaktischen Geschichtserzählung, stellen also die Frage „Was wäre gewesen, wenn…?“ Das Erkunden von Spielräumen und Möglichkeiten soll neugierig machen und zum Nachdenken über Geschichte anregen. Das (Rollen-)Spiel bietet uns zudem die Möglichkeit, historische Ereignisse multiperspektivisch, also aus der Sicht unterschiedlicher Akteure, zu betrachten. Gerade der Blick „von unten“, also das Erleben der sogenannten kleinen Leute, kommt in großen Geschichtsdarstellungen oft zu kurz.

Erzählt uns doch bitte, welche historischen Ereignisse Ihr für Eure Anwendung ausgewählt habt und aufgrund welcher Kriterien Ihr Euch für diese entschieden habt?

Für unseren Prototyp haben wir uns ─ nach intensiver und längerer Abwägung ─ für den Umbruch im Herbst 1989 entschieden. Ganz konkret konzentrieren uns auf die Ereignisse rund um die große Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 in Leipzig. An diesem Tag stand die Möglichkeit einer „chinesischen Lösung“, also der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste, im Raum. Aber die SED-Führung gab wider Erwarten nicht den Befehl den Einsatzplan durchzusetzen, sondern ließ die unübersehbare Menschenmenge passieren: Damit umrundeten die ca. 70.000 Teilnehmer*innen zum ersten Mal den gesamten Leipziger Innenstadtring. Dieses Ereignis kann als Beginn des Niedergangs der SED-Diktatur betrachtet werden.

Die Ereignisse im Herbst 1989 sind in aller Konsequenz weit über die Grenzen von Deutschland hinaus ein Ereignis von enormer historischer und politischer Tragweite. Diese internationale Bedeutung war ein wesentliches Entscheidungskriterium, da unser Publikum zu gut 50 Prozent aus dem Ausland kommt. Auch ist das Thema im Vergleich zu anderen historischen Themen leicht zugänglich, da unsere Besucher*innen erfahrungsgemäß hier viel Vorwissen mitbringen und zum Teil selbst oder in der Elterngeneration die Geschichte miterlebt haben.

Unsere Leser*innen interessiert natürlich besonders, ob und warum Ihr Ideen verworfen habt, gab es zum Beispiel unerwartete Entwicklungen? Berichtet uns von Eurem Entscheidungsprozess!

Die weitreichendsten Diskussionen hatten wir im Hinblick auf die Auswahl des historischen Ereignisses, welches im Zentrum der Digitalanwendung stehen sollte. Bevor wir uns für die friedliche Revolution 1989 entschieden hatten, stand die Idee im Raum, das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 zu thematisieren. Dies haben wir aber letztlich aus inhaltlichen Überlegungen heraus verworfen. Wir haben auch über andere markante Ereignisse in der Geschichte diskutiert, aber die friedliche Revolution 1989 erschien uns letztlich am besten geeignet. Fernab dieser großen inhaltlichen Festlegung müssen wir im Laufe des Entwicklungsprozesses ständig kleinere und größere Richtungsentscheidungen treffen: Da geht es uns wie unseren Spielfiguren.

Woran arbeitet Ihr selbst gerade konkret und welche sind Eure nächsten Schritte?

Für jede Spielfigur haben wir in den letzten Wochen auf der Grundlage historischer Quellenrecherche und mithilfe von Zeitzeug*innenberichten sogenannte Kollektivbiografien und einen individuellen Tagesablauf mit Entscheidungssituationen definiert. Diesen arbeiten wir aktuell gemeinsam mit einer Dramaturgin zu einem Drehbuch aus. Da wir die Anwendung zum Einsatz vor Ort im Museum planen, gehen wir von einem recht begrenzten Zeitkontingent der Nutzer*innen aus – anders als bei einem Spiel, das zu Hause genutzt wird. Insofern ist es wichtig, dass die Besucher*innen schnell ins Spiel finden und in die Geschichte eintauchen können. Die Dramaturgin hilft uns dabei, die historischen Inhalte spannend zu erzählen, ohne sie zu verzerren.

Zeitgleich entwickeln wir gemeinsam mit der von uns beauftragten Agentur und einem Illustrator den visuellen Stil und versuchen, die einzelnen Charaktere möglichst markant darzustellen. Dem Illustrator beim Ausarbeiten der Storyboards über die Schulter zu schauen, ist ein sehr spannender Prozess. Aktuell entstehen außerdem die ersten Wireframes und ein User Interface. In den kommenden Wochen werden wir uns damit beschäftigen, wie die Installation optisch gestaltet, aufgebaut und im März 2022 bei uns im Museum präsentiert werden kann.

Und zum Abschluss noch: Was ratet Ihr Kolleg*innen aus dem Kulturbereich, die ein ähnliches Projekt angehen möchten?

Für uns hat es sich sehr gelohnt, von den Inhalten und den Vermittlungszielen her zu denken. Nicht die Technik stand bei uns im Vordergrund, sondern die Frage, was wir inhaltlich transportieren möchten. Dies hilft aus unserer Sicht sehr dabei, durch die digitalen Medien einen echten Mehrwert zu erzeugen. Für unser Projekt hieß das konkret: Das Mögliche, also alternative Geschichtsverläufe, lassen sich besonders gut durch digitale Elemente darstellen. In der Kombination mit unseren analogen Objekten, also den historischen Fakten, bietet das spannende Möglichkeiten der Geschichtsvermittlung.

Allerdings stellt es für uns nach wie vor eine große methodische Herausforderung dar, wissenschaftliche Ansprüche mit spielerischen Konzepten zu verbinden und komplexe Fachinhalte mit Blick auf die begrenzte Spieldauer in spannend erzählte Geschichten zu übersetzen. Die Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Aufgabe liegt in einer vertrauensvollen und intensiven Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler*innen und Game-Designer*innen.

Fragen von Dr. Silke Krohn und Mira Hoffmann, Antworten von Elisabeth Breitkopf-Bruckschen, Niels Hölmer und Ulrike Kuschel

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Teilprojekt: „Vergangene Zukunft“ digital
Teilprojekt

„Vergangene Zukunft“ digital

Das museum4punkt0-Team vom Deutschen Historischen Museum entwickelt einen digitalen Prototypen anhand von Spielprinzipien, der neben dem Faktischen das Mögliche an historischen Wendepunkten vermittelt.

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