Blick in den museum4punkt0-Praxisalltag: Sieben Fragen an das Team des Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven
Das Teilprojekt spricht mit einem interaktiven Angebot die junge Zielgruppe an! Wie und warum berichten J. Stephan, E. Érsek und B. Burghart.
Das Teilprojekt heißt „Migrationsgeschichte digital erleben“ – berichtet uns kurz zur Einführung, was Ihr Neues vorhabt!
Im Rahmen des Verbundprojektes museum4punk0 durften wir am Deutschen Auswandererhaus in den letzten Jahren bereits allerhand ausprobieren und entwickeln. So haben wir mit Virtual Reality experimentiert und ein digitales partizipatives Befragungstool in unseren Museumsrundgang integriert. Mit diesen Entwicklungen haben wir uns bislang vor allem an Erwachsene gerichtet. In einem Projekt, das sich mit der Zukunft der Museen beschäftigt, fanden wir es angebracht und naheliegend, nun auch ein Angebot speziell für die und vor allem auch mit der jungen Generation zu entwickeln.
Unser aktuelles Vorhaben, das wir dieses Jahr umsetzen, hat den Arbeitstitel „Junge Digitale Sammlung: Dinge & Realitäten“. Im Rahmen eines interaktiven Vermittlungsangebots werfen Schüler*innen zunächst digital einen Blick in die Sammlung des Deutschen Auswandererhauses. Sie erfahren, warum Objekte für Museen so bedeutungsvoll sind und wie sie sich anhand ihres zeitlichen, räumlichen und materiellen Kontextes erschließen lassen. Anschließend sind die Schüler*innen gefragt, ihre eigene Perspektive anhand von Objekten aus ihrem Alltag nachhaltig in die Sammlung einzubringen.
Mittels unterschiedlicher Verfahren wollen wir den Schüler*innen ermöglichen, selbstständig ihre Objekte zu erfassen, sodass 3D-Modelle hiervon generiert werden können. Die Digitalisate sollen mit den jeweils zugehörigen Geschichten in einem digitalen Schaulager gezeigt werden. Zusätzlich sollen die Objekte der Jungen Digitalen Sammlung hier in einen Dialog gebracht werden mit ausgewählten Objekten der Museumssammlung, die ebenfalls als 2- oder 3D-Digitalisate bereitgestellt werden.
Das Thema, zu dem wir Objekte betrachten wollen, ist grundsätzlich variabel. Es ergibt sich für uns aus dem Kernthema des Museums, also Migration, und beobachtbaren gesellschaftlichen Trends: Während digitale Räume und soziale Medien heute mehr Individualität und demokratische Teilhabe verheißen, wenden sich gleichzeitig Gesellschaften vielfach wieder alten Ausgrenzungsmechanismen zu. Wir wollen fragen: Wie gehen Jugendliche mit diesen widersprüchlichen Wirklichkeiten um? Wie vereinbaren sie kulturelle Diversität und Ressentiments gegenüber sich selbst und anderen? Anhand von Objekten aus ihrem Alltag möchte das Deutsche Auswandererhaus mit der Jungen Digitalen Sammlung die Erfahrungen von Schüler*innen als Teil der Zeitgeschichte sichtbar und zugänglich machen. Darüber hinaus bieten uns die 3D-Digitalisate der Schüler*innen die Möglichkeit, zukünftig einzelne Objekte der Jungen Digitalen Sammlung per AR-Anwendung oder als 3D-Druck-Reproduktionen in die Ausstellungen am Deutschen Auswandererhaus zu integrieren.
Wie setzt sich Euer Team zusammen, welche Abteilungen des Museums bindet Ihr wie in den Konzeptions- und Entwicklungsprozess ein?
In unserem Projektteam sind wir ziemlich interdisziplinär aufgestellt. Im Kernteam aus wissenschaftlicher Mitarbeiterin, Projektkoordination und Projektleitung bringen wir unsere jeweiligen Hintergründe aus Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Philosophie und BWL in das Projekt ein und ergänzen uns gegenseitig. Das Team trifft sich regelmäßig – seit Sommer nun auch häufig wieder analog –, um über die Umsetzbarkeit von Ideen und die Einbindung in die bestehenden Vermittlungsangebote des Deutschen Auswandererhauses zu diskutieren.
Bei der Konzeption und Projektentwicklung arbeiten wir in regem Austausch insbesondere mit den Abteilungen Museumspädagogik und Wissenschaft zusammen. Da das Museum auch im Rahmen anderer Bildungsformate sehr eng mit Schulen vernetzt ist, verfügt unsere Museumspädagogin über einen reichen Erfahrungsschatz hinsichtlich didaktischer Methoden und kennt die curricularen Gegebenheiten. Im Projekt koordiniert sie die Zusammenarbeit mit den Schulen für Testings und stellt eine für Schüler*innen angemessene Aufbereitung der Materialien sicher. Zur wissenschaftlichen Abteilung gehören auch die Kolleginnen, die die Museumssammlung mit mehr als 3.000 Familiengeschichten und den zugehörigen Konvoluten betreuen. Sie geben Tipps, welche Objekte sich für das digitale Schaulager besonders gut eignen, und wissen aus erster Hand, worauf es bei der Erfassung von Objekten ankommt.
Mit welchen Methoden beteiligt Ihr Schüler*innen an der Entwicklung?
Wir veranstalten Testings mit Schüler*innen und Lehrer*innen, um die thematische, inhaltliche und technische Ausgestaltung des Angebots bestmöglich auf die Bedürfnisse der Schüler*innen und des Schulbetriebs abzustimmen und dieses zu optimieren. In diesem Sinne finden etwa Diskussionsrunden statt oder praktisches Ausprobieren verschiedener Digitalisierungsverfahren. Neben den ausgesprochenen oder beobachtbaren Reaktionen der Schüler*innen interessieren uns natürlich auch sehr die Einschätzungen der Lehrer*innen. Sie kennen einerseits die Schüler*innen am besten und können zum anderen gut abschätzen, wie sich das Angebot in den Unterricht integrieren lässt, an welche Lerneinheiten es anschlussfähig ist und nicht zuletzt auch, wie viel Unterrichtszeit sie dem einräumen können. Die Lehrer*innen werden in die Entwicklung daher gleichermaßen miteinbezogen und befragt. Wenn wir einen Schritt weiter sind und uns verstärkt mit der Erstellung von Materialien für die vorbereitenden Lerneinheiten im Schulunterricht beschäftigen, werden wir dies sicherlich auch wieder in enger Abstimmung mit den späteren Nutzer*innen tun.
Welche Objekte aus Eurer Sammlung eignen sich besonders für Euer Vermittlungsangebot? Und warum?
Bei der Auswahl der Objekte sind vor allem zwei Kriterien wichtig: Einerseits sollen sie den Schüler*innen bereits vor dem Besuch im Deutschen Auswandererhaus Einblicke in die Museumssammlung geben. So können sich die Schüler*innen ein Bild machen, welche Objekte sich zu welchen Themen in unserer Sammlung befinden und wie sie aufbereitet werden, um Besucher*innen die zugehörige Geschichte zu vermitteln. Dies soll den Heranwachsenden bei der eigenen Objektauswahl als Orientierung und Inspiration dienen. Neben 3D-Objekten eignen sich hierzu auch Ausschnitte aus Oral-History-Interviews und Briefe sehr gut. Diese sind mitunter sehr persönlich und geben einen einprägsamen Eindruck von einzelnen Personen und ihren Schicksalen, zu denen die Schüler*innen leichten Zugang finden. Andererseits dienen die Objekte später als historische Bezugspunkte, zu denen die Schüler*innen ihre eigenen Objekte in ein dialogisches Verhältnis bringen können – als Fortführung oder Erweiterung, im Vergleich oder in Kontrast zur bestehenden Sammlung. Bezüge zwischen Objekten, Personen, Themen und Geschichten können so über Zeiten und Räume hinweg hergestellt sowie das Eigene und Individuelle in einen größeren gesellschaftlichen Kontext gesetzt werden.
Unsere Leser*innen interessiert natürlich besonders, ob und warum Ihr Ideen verworfen habt, gab es zum Beispiel unerwartete Entwicklungen? Berichtet uns von Eurem Entscheidungsprozess!
Um dies zu beantworten, zunächst ein Blick zurück zu den Wurzeln des Projektes: Die Grundidee war, das eher trockene Thema Quellenarbeit für junge Menschen attraktiv zu machen. Ein wesentliches Mittel sollte sein, aktuelle Bezüge zum Alltag der Jugendlichen und insbesondere zu ihrer digital-analogen Lebenswelt herzustellen. Geschichte also als Kontinuum zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu begreifen. Wir wollten den Schüler*innen zum einen den Zugang zu historischen Zeugnissen öffnen – als wichtigen Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Zum anderen wollten wir ihnen ermöglichen, sich selbst als Dokumentar*innen der Zeitgeschichte zu erfahren, also Teile ihres Alltags für die Zukunft und ein zukünftiges Verständnis der Jetzt-Zeit zu bewahren. Interaktiv sollte das Angebot sein und dabei wie im Vorbeigehen migrationsgeschichtliche Inhalte sowie Methoden- und Medienkompetenzen vermitteln. Wie wir dies technisch und didaktisch umsetzen können, war anfangs noch sehr vage. So waren unsere Überlegungen zu Beginn deutlich stärker ausgerichtet auf eine technisch gestützte Quellenarbeit von Schüler*innen an Objekten und Schriftstücken aus der Sammlung, die vor Ort im Deutschen Auswandererhaus stattfinden sollte.
Als die Corona-Pandemie dann über den Winter hinweg und ins Frühjahr hinein anhielt, wurde immer deutlicher, dass durch die Pandemie besonders auch an den Schulen viel in Bewegung gekommen war und sich wie im Zeitraffer neu ausrichtete. Gewohnheiten, Erwartungen und Notwendigkeiten justierten sich neu. Dies ist natürlich auch an uns und den Überlegungen zur Ausgestaltung des Vorhabens nicht spurlos vorübergegangen. Wir fragten uns: Was bedeuten diese Veränderungen für unser Projekt? Und wie können wir eine adäquate Antwort auf diese finden? Komplett ortsgebundene Vermittlungsformate erwiesen sich in Zeiten monatelangen Lockdowns als mindestens überdenkenswert. Das Angebot zu flexibilisieren und einen Teil aus dem Museum heraus und in den Schulunterricht – ob in Präsenz oder digital – zu verlegen, schien neue Möglichkeiten zu eröffnen. So können Materialien und Inhalte räumlich und zeitlich übergreifend zugänglich gemacht werden. Teile analog, andere Teile digital umzusetzen, also ein hybrides Angebot zu schaffen, wurde ins Visier genommen. Immer mehr kristallisierte sich so die Idee eines modular aufgebauten, erweiterten Workshop-Formats heraus, in dem Analoges und Digitales ineinandergreifen.
Woran arbeitet Ihr selbst gerade konkret und welche sind Eure nächsten Schritte?
Zurzeit sind wir dabei, geeignete Digitalisierungsverfahren und -geräte für die Schüler*innen zu finden. 3D-Scanverfahren sind für Laien noch nicht intuitiv und leicht zu bedienen. Für unsere Belange sollten sie schnell und einfach einsetzbar sein, aber dennoch ein gutes Ergebnis liefern. Beim nächsten Testing möchten wir konkreter auf die technischen Abläufe eingehen und die einzelnen Stationen bei der Objektdigitalisierung mit Schüler*innen austesten.
Für die thematische Vorbereitung auf den Workshop im Deutschen Auswandererhaus bzw. dessen Nachbereitung in der Schule wollen wir entsprechende Lehrmaterialien ausarbeiten. Mit diesen Materialien sollen die gesellschaftspolitischen Fragen nach Identität und Diversität in Bezug auf Diskriminierung sowie die originären Aufgaben eines Museums – Sammeln, Bewahren, Forschen, Ausstellen, Vermitteln – beleuchtet werden.
Des Weiteren denken wir über den Zuschnitt verschiedener Workshop-Formate nach. So ist auch eine Ausstellung mit den Objekten aus der Jungen Digitalen Sammlung im Rahmen einer Summer School angedacht. Schüler*innen erhalten hier die Möglichkeit, die Themen ihrer Lebenswelt so zu gewichten und darzustellen, wie sie ihrer Realität entsprechen. Spannend wird sein, wie sie die Digitalisate einsetzen und ob sich die Frage nach physischen Objekten stellen wird.
Und zum Abschluss noch: Was ratet Ihr Kolleg*innen aus dem Kulturbereich, die ein ähnliches Projekt angehen möchten?
Vermutlich überrascht es wenig, wenn wir raten, Schüler*innen und Lehrende möglichst frühzeitig in die Entwicklungsarbeit einzubinden. Dennoch soll es hier gesagt sein, weil es essentiell wichtig ist. Durch diesen Austausch, die Antworten und Fragen, lässt sich etwa schnell herausfinden, welche Themen und Ideen bei Schüler*innen auf Interesse stoßen sowie durch welches Vermittlungsformat sich das Vorhaben am besten mit der Lehre an den Schulen verbinden lässt.
In unserem Fall zeigten sich die Schüler*innen überaus interessiert an einer vertieften Beschäftigung mit den Themen Identität und Diversität, insbesondere im Kontext von Migration. Gerade die Objekte und Geschichten der eigenen Mitschüler*innen kennenzulernen, wurde mehrfach als spannend benannt. Auch bestätigte sich unsere Vorannahme, dass es für eine angemessene Auseinandersetzung zusätzlich zum Workshop im Museum einer thematischen Vor- und Nachbereitung in der Schule bedarf. Sowohl seitens der Lehrenden als auch der Schüler*innen wurde ausdrücklich der Wunsch nach einer vertieften Themenbehandlung geäußert, die schulische Vermittlung und außerschulische Angebote am Museum eng miteinander kombiniert.
Das Deutsche Auswandererhaus wurde nach Aussage der Schüler*innen zudem als geeigneter Ort empfunden, um auch über persönliche Erfahrungen in diesem Kontext zu sprechen.
Die bereitgestellten Technologien zur 3D-Konservierung – in unserem Fall Photogrammetrie und iPad mit LiDAR-Sensor – wurden von den Schüler*innen mit Entdeckergeist und Freude ausgiebig ausprobiert. Die Lehrenden stellten interessierte Fragen danach, inwiefern die von Schüler*innen digitalisierten Objekte etwa in eine Ausstellung integriert werden könnten.
Und für die Schüler*innen schien es besonders ansprechend zu sein, einmal aus Museums-Perspektive einen Blick auf das eigene Leben zu werfen und seinen Wert für die historische Forschung und Vermittlung zu erkennen – die eigenen Objekte, aber auch Gedanken und Gefühle in ihrer Verwobenheit als bewahrungswürdig zu entdecken.
Fragen von Dr. Silke Krohn und Mira Hoffmann, Antworten von Jasper Stephan, Erika Érsek und Birgit Burghart
Mehr erfahren
- Blog-Beitrag: „Decodiert! Digitaler Zugang zu historischen Quellen für junge Menschen“ (10. Februar 2021)
- Blog-Beitrag: „Mehr als die Summe seiner Teile: Portal zu Lebensgeschichten von MigrantInnen“ (02. Oktober 2020