Ein Ereignis – viele Erfahrungshorizonte: Zeitzeugenberichte interaktiv erschließen
Das Haus der Geschichte entwickelt mit dem Projekt „ZeitzeugenFragen“ eine Medieninstallation, die multiperspektivische Erzählungen in den Fokus nimmt.
Martin Schramme, Soldat der Nationalen Volksarmee der DDR, war geschockt, die 18-jährige Ostdeutsche Anette Raub hat die Nachricht nicht interessiert und für DDR-Flüchtling Wilfried Seiring war es „ein einmaliges Fest der Freude“. Drei Menschen erzählen sehr unterschiedlich, wie sie den Abend des 9. November 1989 erlebt haben, als die Mauer in Berlin fiel, indem Grenzübergänge nach Jahrzehnten erstmals wieder geöffnet wurden und damit die Trennung von West- und Ostdeutschland endete. Verschiedene Lebensläufe, Erfahrungen und Einstellungen führen zu sehr unterschiedlichen Erinnerungen und Bewertungen historischer Ereignisse. Gerade im Vergleich zeigt sich, wie subjektiv und abhängig vom jeweiligen Standpunkt die Perspektive auf Vergangenes sein kann.
Zugänge durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erzählte Geschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten auch in Ausstellungen etabliert, um diese Perspektivenvielfalt abzubilden und Besucherinnen und Besucher anzuregen, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen. Die Vielzahl an Stimmen verweist dabei auch auf die Vielschichtigkeit vergangener Ereignisse und macht deutlich, welche konkreten Veränderungen die Zeitzeugen in ihrem eigenen Umfeld wahrnahmen. Gezielt setzt die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland daher videografierte Zeitzeugenberichte in ihren Dauer- und Wechselausstellungen in Bonn, Leipzig und Berlin ein. Der Bestand, der durch Neuproduktionen stetig anwächst, kann zudem auch online im Zeitzeugenportal abgerufen werden.
ZeitzeugenFragen
Mit dem Projekt „ZeitzeugenFragen“ im Rahmen des Verbundes museum4punkt0 vertieft die Stiftung Haus der Geschichte ihre Überlegungen zu zeitgemäßen Präsentationsformaten von Zeitzeugen in Ausstellungen. Ziel ist die inhaltliche und technische Konzeption einer medialen Installation. Besucherinnen und Besucher sollen in der Ausstellung interaktiv auf einen Zeitzeugenbestand zugreifen können, um multiperspektivische Einblicke in die Zeit der friedlichen Revolution, des Mauerfalls 1989 und der Zeit bis zur Wiedervereinigung 1990 zu erhalten. Denn nach vierzig Jahren der politischen Teilung in Bundesrepublik und DDR stand nach den friedlichen Protestbewegungen und der Grenzöffnung am 9. November 1989 keineswegs fest, was genau passieren würde und wie die Zukunft der beiden deutschen Staaten aussehen könnte. Vielmehr gab es sehr verschiedene Zukunftsvorstellungen, Hoffnungen und Ängste, die mit diesen Veränderungen einhergingen. In den Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geht es zudem nicht nur um die großen Linien der nationalen und internationalen Politik, sondern insbesondere auch um Alltagserfahrungen, Gefühle und persönliche Erlebnisse.
Vernetzung und Interaktion
Mit dem Projekt „ZeitzeugenFragen“ stellt sich das Projektteam auch der Frage, wie Zeitzeugeninterviews durch technologische Möglichkeiten auf neue Art und Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Wie können die sehr individuellen Erzählungen dazu beitragen, ein differenziertes Bild dieser Umbruchsphase zu zeichnen? Und wie können Besucherinnen und Besucher sie gleichzeitig selbstständig und intuitiv erschließen? Gerade KI-gestützte Erschließungsverfahren sollen uns hier weiterhelfen. Wir erproben im Projekt verschiedene Analysemethoden wie das Topic Modeling, die Named-Entity Recognition oder die Sentiment-Analyse auf ihren Mehrwert, um neue Zugänge zu erzählter Geschichte zu schaffen.
Durch solche Anreicherungen kann jedes einzelne Video mit dem Gesamtbestand in Beziehung gesetzt werden. Neue Querverweise und Verbindungen können sichtbar werden, die sonst im Verborgenen geblieben wären. In der aktuellen Projektphase wird der Videobestand und die Datenbasis genauer evaluiert, um sich danach den technischen Erschließungsmöglichkeiten weiter anzunähern. Damit einher gehen Überlegungen, wie die selbstständige Erschließung im Ausstellungsraum inszeniert werden kann, um einen ansprechenden und intuitiven Zugang zu schaffen.
Reflexion im Verbund
Durch museum4punkt0 wird es möglich, die Anforderungen an alle digitalen Projekte der Stiftung Haus der Geschichte in einem größeren Rahmen zu reflektieren. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus vielen, sehr unterschiedlichen Museen hilft, die eigenen Projektvorhaben weiter zu schärfen und gemeinschaftlich an digitalen Lösungen für zeitgemäße Ausstellungen zu arbeiten.
Beitrag von: Janek Cordes
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- Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Zeitzeugenportal