Spielerisch biologische Vielfalt entdecken – eine interaktive Medienstation mit Tangibles aus biologischen Objekten
Überblick
Die interaktive Medienstation lädt Museumsbesucher*innen dazu ein, die biologische Vielfalt im Wald und in unseren Sammlungen zu entdecken: 33 in Kunstharz eingegossene Proben verschiedener Waldlebewesen lassen sich an einem RFID-Sensor auslesen und an zwei Bildschirmen anhand von hochauflösenden Bildern untersuchen. Beim genaueren Betrachten entpuppen sich vermeintlich „gleiche“ Organismen jeweils als Trios ähnlicher, aber unterscheidbarer Arten. Entstanden ist ein Format, das Objekte aus unseren wissenschaftlichen Sammlungen, die man aber auch bei einem Waldspaziergang finden kann, analog zugänglich macht. Die Station entstand im Tandem zwischen dem Naturhistorischen Museum Mainz und dem Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz.
Bibliographische Angaben
- Institution
- Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz und Naturhistorisches Museum Mainz
- Teilprojekt
- „Ordnen, verstehen, wertschätzen, bewahren“ Vermittlung der biologischen Vielfalt mit digitalen Formaten
- Autor*innen
- Susanne Lanckowsky, Lisa Janke
- Veröffentlicht
- 03.07.2023
- Lizenz der Publikation
- CC BY 4.0
- Kontakt
- Naturhistorisches Museum Mainz und Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz
Naturhistorisches Museum Mainz und Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz
naturkundemuseum@stadt.mainz.de, post-gr@senckenberg.de
Entwicklung im Tandem
Die Entwicklung unserer Anwendung erfolgte „im Tandem“ zwischen dem Naturhistorischen Museum Mainz und dem Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz. Keiner der beiden Partner hatte die Entscheidungshoheit, alle Schritte wurden gemeinsam ausgehandelt und das Produkt sind zwei identische Medienstationen, die in den jeweiligen Ausstellungen in Mainz und in Görlitz eingebunden sind. Aufgrund der Entfernung arbeiteten wir viel mit virtuellen Tools wie Zoom, Miro und Dropbox. Ein Kooperationsvertrag zwischen den Tandempartnern regelte verwaltungsseitig u.a. die Rolle des Auftraggebers innerhalb der gemeinsam vorbereiteten Verhandlungsvergabe, die Rechnungsstellung für die anteilige Finanzierung des Vorhabens und die Übertragung von Eigentumsrechten nach Abschluss der Produktentwicklung. Die Projektkoordination lag in Görlitz, während Mainz schwerpunktmäßig für die Erarbeitung und Beschaffung der wissenschaftlichen Inhalte verantwortlich war. Konzeptionelle Entscheidungen wurden von allen Beteiligten gemeinsam getroffen.
Inhaltliches Konzept
Vom Großteil der Öffentlichkeit unbemerkt sterben täglich unzählige Arten aus. Die Begriffe Biodiversität und Artensterben hat inzwischen jeder einmal gehört, aber was sie genau bedeuten und wie biologische Vielfalt bzw. ihr Verlust gemessen wird, nicht unbedingt. Viele Bürger*innen wissen nicht, wo sie hingucken müssen, um zum Beispiel schwarze Vögel oder Mistkäferarten auseinanderzuhalten und dabei helfen auch die wenigsten Bestimmungs-Apps. Ebenfalls unbekannt sind vielen die Sammlungen von Lebewesen und Objekten hinter den Kulissen naturkundlicher Museen und ihre Bedeutung als „Datenbanken der Natur“. Die Aktualität der Biodiversitätskrise und auch des Waldsterbens förderte an beiden Häusern den Wunsch, die Relevanz der Themen mit einem modernen Exponat in unseren Ausstellungsbereichen zum Wald zu unterstreichen. Zudem wollten mit diesem Format einen Beitrag zum „Public Understanding of Research and Collections“ leisten, indem wir Einblicke in unsere Sammlungen geben. Die Anwendung sollte das Erlebnis im Museums aufwerten und sich dabei vom Konsum digitaler Anwendungen „zu Hause am Bildschirm“ unterscheiden.
Kinder und Schüler*innen sind eine Kernzielgruppe der Vermittlungsangebote von Naturkundemuseen und „Tiere des Waldes“ Teil der Lehrpläne in Grundschulen. Im Laufe der Konzeptionsphase wurde die Zielgruppe auch auf Erwachsene erweitert, um möglichst viele Besucher*innen für Biodiversität zu begeistern. Um Nutzer*innen „ab 8 Jahren“ anzusprechen, bemühten wir uns, in der Anwendung möglichst wenig und leicht verständlichen Text einzusetzen.
Vermittlungsansatz ist, dass biologische Vielfalt individuell erlebbar wird, wenn Unterschiede zwischen Arten wahrgenommen werden. Die Voraussetzung dafür ist das genaue Hinschauen. Daraus ergab sich, dass wir mit unserem Format die Freude an der detaillierten, visuellen Auseinandersetzung mit Objekten fördern wollten. Neben der individuellen Nutzung sollte auch ein Erlebnis in der Gruppe möglich sein.
Einen Einblick in den Prozess der gemeinsamen Zieldefinition und der inhaltlichen Konzeption im Tandem vermittelt ein Miro-Board. Es ist das Ergebnis eines zweitägigen Workshops in Vorbereitung der Leistungsbeschreibung für die Vergabe der Anwendungsentwicklung mit MESO Digital Interiors.
Eine große Herausforderung bestand darin, die Inhalte für die Leistungsbeschreibung so auszuwählen, dass eine Richtung vorgegeben wird, aber genügend kreativer Freiraum für die Auftragnehmer bleibt. Eine vorläufige Artenliste mit 25 Waldorganismen, ihre Erkennungs- und Unterscheidungsmerkmale und passendes Bildmaterial bildeten eine erste Grundlage für das Grobkonzept der Anwendung. Aus der Vergabeverhandlung mit Teilnahmewettbewerb ging die Firma .hapto GmbH als Auftragnehmer hervor. Ihr Gestaltungsentwurf sah einen Medientisch mit Tangibles – runden, klaren Plexiglaspucks mit einem unterlegten Foto von Waldorganismen – vor. Im Zuge der gemeinsamen Weiterentwicklung entschieden wir uns dafür, für diese Pucks biologische Proben in Kunstharz zu gießen, um eine tiefergehende Auseinandersetzung mit originalen Objekten zu ermöglichen und den Erlebnischarakter der Anwendung zu steigern.
Technisches Konzept
Die interaktive Station ist ein maßangefertigtes, unterfahrbares Tischmöbel aus langlebigem und robustem Mineralwerkstoff. In fünf Schubladen liegen 33 Pucks aus in Kunstharz gegossenen biologischen Proben bereit. Sie enthalten einen RFID-Tag und können auf einer in den Tisch eingelassenen leuchtenden Scheibe, unter der sich der Sensor befindet, ausgelesen werden. Entsprechend des Tags werden auf dem Touchscreen und einem darüber befestigten weiteren Bildschirm Inhalte in der Anwendung abgerufen. Der Zuspielrechner für die Anwendung und das RFID-Lesegerät (ein Bauteil aus RFID-Antenne, Platine und Leuchtelement) sind über Revisionsklappen zugänglich.
Die Anwendung wurde in Unity entwickelt und beinhaltet große Mengen an hochauflösenden Bilddateien, die für die schnelle Verarbeitung zur Laufzeit optimiert sind, damit im Betrieb keine Ladezeiten bemerkbar sind. Innerhalb der Unity-Anwendung sind Datenobjekte zu jedem Puck angelegt. Jedes enthält alle Interface-Elemente für beide Bildschirme, alle Grafiken und hochauflösenden Bilder. An vielen Stellen der User Journey kann in die Bilder hineingezoomt und diese genau betrachtet werden. Durch das Auflegen eines Pucks können die Nutzer*innen über drei Schaltflächen diesen
- anhand von Schubladen oder Insektenkästen mit den Objekten in wissenschaftlichen Sammlungen vergleichen
- durch Auflegen weiterer Pucks diese miteinander vergleichen und dazu Unterscheidungsmerkmale abrufen
- kurze, knackige Informationen zu den Organismen und der Vielfalt ihrer nahen Verwandten anzeigen
Im Ruhezustand (Idle Mode) zeigt der Touchscreen eine Aufforderung zum Auflegen eines Pucks, der Wandbildschirm einen Videoloop eines Waldspaziergangs.
Implementierung und Inbetriebnahme
Der Mehrwert der Medienstation im Vergleich zu Anwendungen, die man an einem privaten Endgerät nutzen kann, ist einerseits die Größe der Bildschirme, das hochauflösende Bildmaterial und die Tangibles mit Proben echter Waldorganismen. Die Auswahl der Organismen, z.B. Federn, Insekten oder gepresste Blätter, war lange Zeit sehr dynamisch, da die Verfügbarkeit der biologischen Proben, der passenden Bildmaterialien und Texte in Abhängigkeit zueinander stehen und mehrere, sich oft erst entwickelnde Faktoren die Aufnahme oder den Ausschluss aus der Artenliste bedingten, zum Beispiel die Größe der biologischen Proben, die in den Puck passen sollten oder deren Oberflächenstruktur, die für einen Kunstharz-Verguss geeignet sein musste. Die Beschaffung vieler Proben und Bilder war nur durch die großartige kollegiale Unterstützung der Kolleg*innen in den eigenen Häusern und insbesondere auch weiterer Naturkundemuseen möglich.
Durch eine Versuchsreihe der Entwickler zum Kunstharz-Verguss wurde eine handhabbare Methode zum Herstellen runder Pucks mit verlorener Form gefunden, der Verguss selbst aber an einen ausgewiesenen Spezialisten, die Firma HC Biovision, vergeben. Biologische Proben sind sehr schwierig einzugießen: So müssen zum Beispiel Schädel spezifisch imprägniert werden, bevor sie in einer Vakuumkammer zum Austreiben der Luftblasen und in mehreren Schichten eingegossen werden. Für Nachnutzer*innen: Andere Objekte können weit weniger herausfordernd sein als biologische Proben. Die Kunstharz-Pucks (Durchmesser 8,4 cm, Höhe 3,4 cm) wurden anschließend mithilfe von weißem Silikon bündig auf einer 3D-gedruckten Platte aufgebracht, die den RFID-Tag und einen Warensicherungstag, passend zum museumseigenen Sicherungssystem, enthält. Ein weißer Filz am Boden des Pucks schützt die Medienstation vor Kratzern.
Bildmaterial
Bis auf Stockfotos von Lebewesen in ihrer natürlichen Umgebung (CC-BY-SA Lizenz) wurde das Bildmaterial eigens für die Anwendung angefertigt. Einerseits wurde mit einer digitalen Spiegelreflexkamera (z.B. Standpräparate von Vögeln), andererseits mit einem Smarthphone (z.B. Mistkäfer im Wald) gearbeitet.
Zahlreiche Fotos sind außerdem an speziellen Fotostationen entstanden: Tiefenscharfe Makroaufnahmen wurden mithilfe der „Stacking“-Methode anfertigt (z.B. Insekten und Schädel). Ein Teil der Insektenkästen wurde mithilfe eines sogenannten Kastenscanners fotografiert und anschließend „gestitcht“. Andere, ebenso wie die Mehrzahl der Schubladen, wurden an einer leistungsstarken Fotostation der Senckenberg Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt am Main angefertigt. Alle Bilder wurden in Photoshop bearbeitet.
Biologische Proben
Die Beschaffung der biologischen Proben erfolgte ebenfalls aus unterschiedlichsten Quellen. Das wenigste stammte aus Beständen des SNMG oder nhm. Inventarisiertes Sammlungsmaterial kann nicht ohne weiteres entnommen und einem anderen Zweck zugeführt werden. Etwa die Hälfte der Proben wurden deshalb extra auf Exkursionen „im Feld“ gesammelt, von Kolleg*innen erbeten, die im Naturschutz tätig sind und auch gekauft. Die andere Hälfte der Objekte stammt tatsächlich aus naturkundlichen Sammlungen bzw. aus der Forschung. Beim Kunstharz-Verguss musste mit Fehlgüssen gerechnet werden, sodass mehr Material als die letztendlich verwendeten Proben vorgehalten werden musste.
Nachnutzung und Weiterentwicklung
Für eine nachhaltige Nutzung und Pflege wurde ein Betriebs- und Nachhaltigkeitskonzept erstellt:
Es wird um ein Videotutorial zur Bearbeitung des Unity-Projekts ergänzt, dass an beiden Häusern auch für Nachnutzer*innen hinterlegt ist.
Die Inhalte der Station sind biologischer Natur und beziehen sich auf heimische Buchenmischwälder. Die Struktur der Unity-Anwendung erlaubt es, Objekte in erster Linie durch Fotos zu repräsentieren, daher wird davon ausgegangen, dass die Source-Codes auch von anderen Häusern genutzt werden können. Das Konzept eignet sich dazu, Objekte anderer Museen zu untersuchen, miteinander zu vergleichen und interessante Zusatzinformationen abzurufen (z.B. Scherben von Keramik, Ausschnitte von Bildern, Schmuck unterschiedlicher Epochen, Künstler*innen oder Kulturkreise). Mitarbeitende aus archäologischen Institutionen zeigten bereits Interesse an der Medienstation.
Die Medienstation des Naturhistorischen Museum Mainz soll voraussichtlich ab 2024 ausleihbar sein und so auch physisch für die Nachnutzung zur Verfügung stehen.
Bereitstellung der Nachnutzung
Das Bildmaterial und die Texte sind unter CC-BY 4.0 lizensiert und werden auf Anfrage zur Verfügung gestellt.
Eine technische Dokumentation ist auf GitHub verfügbar. Das Unity-Projekt selbst wird auf Anfrage zur Verfügung gestellt. Bitte wenden Sie sich an: naturkundemuseum@stadt.mainz.de oder post-gr@senckenberg.de.
Weitere Elemente der Nachnutzung finden Sie im Anhang dieser Publikation.
Besucherforschung und Usability Testings
Anhand eines prototypischen Aufbaus der Hardwarekomponenten für die Medienstation wurde beim museum4punkt0 finale in Berlin (Anfang Mai 2023) die Nutzung der Station beobachtet und die Teilnehmer*innen anhand eines offenen Gesprächsprotokolls zur Usability und zum Gesamteindruck der Station befragt.
Ende Mai 2023 wurden die fertiggestellten Medienstationen in Mainz und Görlitz aufgebaut. Mit Hilfe der „Laut Denken“ Methode wurden Museumskolleg*innen bei der Nutzung beobachtet. Anschließend wurden Änderungsvorschläge für die Software gesammelt und gemeinsam zwischen dem Projektteam und den Entwicklern besprochen. Im Juni 2023 wurden Nutzer*innen nach Auseinandersetzung mit der Medienstation anhand eines Fragebogens interviewt. Die Auswertung inklusive Fragebogen werden als PDF bereitgestellt.
Anhang
- Ergebnis eines zweitägigen Workshops
- Betriebs- und Nachhaltigkeitskonzept
- Auswertung inklusive Fragebogen