Geschichtsvermittlung mit interaktiven Videos von Zeitzeug*innen
Wie können Zeitzeug*inneninterviews interaktiv und individuell erlebbar sein? Das Team vom Haus der Geschichte erzählt von Lösungen und verworfenen Ideen.
Markus, Du koordinierst das Teilprojekt „ZeitzeugenFragen. Eine interaktive Videoinstallation zur Multiperspektivität von Geschichte“ – berichte uns kurz zur Einführung, was Ihr vorhabt!
In unserem Projekt sollen Besucher*innen die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in den Jahren 1989/1990 anhand von Zeitzeug*innenaussagen nach eigenen Interessensschwerpunkten erschließen können. Dabei werden nicht nur die historischen Ereignisse in den Blick genommen, sondern besonders die subjektive Einordnung derselben. Wie haben sich verschiedene Zeitzeug*innen beispielsweise gefühlt, als sie vom Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erfuhren? Welche Alltagserfahrungen haben sie im Zusammenhang mit dem historischen Ereignis gemacht? Und wie unterscheiden sich diese persönlichen Perspektiven, je nach eigener Lebenswelt?
Wie setzt sich Euer Team zusammen, welche Abteilungen des Museums bindet Ihr in den Konzeptions- und Entwicklungsprozess ein?
Das Team von „ZeitzeugenFragen“ ist in der Abteilung Digitale Dienste der Stiftung Haus der Geschichte angesiedelt, die für die attraktive und zeitgemäße Vermittlung von Zeitgeschichte unterschiedliche mediale Formate entwickelt und umsetzt. Expertisen aus historischer Forschung, Zeitzeugenarbeit und Medienentwicklung fließen hier zusammen. Für das Projekt neu geschaffen wurde eine Stelle für Datenmanagement und -analyse, mit dem Ziel, die Bestände an videografierten Zeitzeug*inneninterviews auf neue Art zu erschließen. Die im Projektteam erarbeiteten Konzepte werden regelmäßig vorgestellt und es wird gemeinschaftlich evaluiert, wie eine geeignete Schnittstelle für Besucher*innen aussehen kann, wie sich die Medieninstallation in das digitale Gesamtkonzept einordnet und in welchen Bereichen neue Ansätze erprobt werden können.
Nun eine Frage speziell für den zweiten Markus, Du bist derjenige, der für Datenmanagement und -analyse zuständig ist: Welche Methoden möchtet Ihr für die Umsetzung nutzen, in welche Richtung gehen Eure Überlegungen?
Ein wichtiger Ansatzpunkt zur Aufbereitung der Interviews ist das automatisierte Erkennen von Orts- und Personennamen und die Ausgabe von besonders prägnanten Begriffen, die erste Anhaltspunkte auf den Inhalt geben und neue Querverbindungen zwischen den Videos ermöglichen. Hierfür haben wir in der letzten Projektphase ein standardisiertes Vorgehen erarbeitet, das Verfahren des Natural Language Processing anwendet. Bei der (räumlichen) Gestaltung der Medieninstallation ist es uns besonders wichtig, die Interaktion der Besucher*innen mit den Inhalten ins Zentrum der Überlegungen zu stellen und neue Zugänge zu ermöglichen.
Janek, Du bist der dritte wissenschaftliche Mitarbeiter im Team, kannst Du schon konkrete Beispiele nennen – welche Objekte oder Inhalte wie über die Anwendungen präsentiert werden sollen bzw. können? Gibt es dafür Auswahlkriterien?
Zentraler Bestandteil der Ausstellungsinstallation sind die Videos der Zeitzeug*innen, die mit weiterem Quellenmaterial, wie historischen Fotos, Film- und Tonaufnahmen, verbunden werden sollen. Wichtig bei der Auswahl sind besonders die unterschiedlichen Perspektiven auf die Ereignisse. Je nach Lebenssituation und Erfahrungen der Zeitzeug*innen unterscheiden sich auch die Perspektiven auf die Umbrüche 1989/1990. So finden sich in den Videos beispielsweise sehr unterschiedliche Einordnungen des Mauerfalls. Zwar war er für einen Großteil der befragten Zeitzeugen ein positiv empfundenes Ereignis, jedoch berichten auch einige, wie der Fall der Mauer zu Ängsten und Unsicherheit führte. Dabei sollen Besucher*innen selbst entscheiden können welche Themenbereiche und welche emotionalen Zugänge sie besonders interessieren, gleichzeitig soll das Angebot ermöglichen, auch andere als die ausgewählten Perspektiven zu entdecken.
Unsere Leser*innen interessiert natürlich besonders, ob und warum Ihr Ideen verworfen habt, gab es zum Beispiel unerwartete Entwicklungen? Berichtet uns von Eurem Entscheidungsprozess!
In der ersten Projektphase haben wir uns intensiv mit den technischen Möglichkeiten einer sprachgesteuerten Interaktion mit den vorhandenen Videos der Zeitzeug*innen auseinandergesetzt, um eine Dialogsituation für Besucher*innen zu ermöglichen. Wir mussten jedoch für unser Projekt feststellen, dass die technischen Hürden für das korrekte Erkennen und die Interpretation einer Spracheingabe derzeit noch zu hoch sind. Schon die automatische Transkription der Zeitzeug*innenvideos stellt die KI-Systeme teilweise vor große Herausforderungen. Falsch interpretierte Spracheingaben und eine dann fehlerhafte Ausgabe von Videos führen zu Frustration auf Seiten der Besucher*innen und könnten größere Irritationen hervorrufen. Ein stabiles System, das mit Hilfe von maschinellem Lernen automatisiert die passenden Zeitzeug*innenclips anhand von Sprachbefehlen ausgibt, ist mit den derzeitigen technischen Gegebenheiten im Rahmen der Projektförderung nicht zu realisieren.
Woran arbeitet Ihr selbst gerade konkret und welche sind Eure nächsten Schritte?
Nachdem wir in der letzten Projektphase konkretisiert haben, wie wir die Transkriptionen der Zeitzeug*innenvideos aufbereiten und analysieren, beschäftigen wir uns aktuell besonders mit Fragen der Interaktion und Gestaltung. Wie sieht die Interaktion der Besucher*innen im Detail aus? Wie sollte die Medieninstallation räumlich gestaltet sein, um Besucher*innen auf einer ersten Ebene für die Zeitzeug*innenaussagen zu interessieren und eine eigene Auswahl zu treffen? Und wie könnten von dort Vertiefungsebenen geschaffen werden, die sich mit konkreten Ereignissen oder deren Einordnung auseinandersetzen, um eine individuelle Auseinandersetzung mit den Zeitzeug*innen und den Ereignissen 1989/1990 zu fördern?
Und zum Abschluss noch: Was ratet Ihr Kolleg*innen aus dem Kulturbereich, die ein ähnliches Projekt angehen möchten?
Im Bereich der Datenanalyse hat es uns sehr geholfen, uns mit bestehenden Projekten zu vernetzen und eine erste Einschätzung zum eigenen Projektvorhaben einzuholen. Durch intensive Gespräche hat sich herausgestellt, dass es viele innovative Möglichkeiten gibt, die eigenen Bestände zu erschließen und anzureichern, dass ein individueller Zuschnitt jedoch sehr zeitaufwändig sein kann, insbesondere im Bereich der Sprachverarbeitung. Gerade hier stellte sich früh die Frage nach der Qualität der Ausgangsdaten und ob die durch automatisierte Verfahren gewonnenen Resultate schon unseren Anforderungen genügen. So hat sich gezeigt, wo und wie wir dann doch manuell weiterarbeiten müssen.
Fragen von Dr. Silke Krohn und Mira Hoffmann, Antworten von Dr. Markus Würz, Markus Raulf und Janek Cordes