„Vergangene Zukunft“ digital: Pilotprojekt zum Potenzial digitaler Spiele
An Wendepunkten der Geschichte erprobt das Deutsche Historische Museum mittels Gaming die Spielräume historisch-politischen Handelns.
Ein Geschichtsmuseum ist erst einmal den Fakten verpflichtet und diese manifestieren sich in historischen Zeugnissen, in Objekten. Insbesondere, wenn ein Haus wie das Deutsche Historische Museum auf einen reichen Bestand blicken kann – das DHM hat gut 900.000 Objekte in seiner Sammlung – gilt es, diese zu zeigen und sprechen zu lassen. Doch kein Objekt spricht für sich: Als ‚stummer Zeuge‘ ist es auf Kontextualisierung, basierend auf wissenschaftlicher und kuratorischer Arbeit, angewiesen. In Folge dessen werden in der Gesamtpräsentation einer Ausstellung Entwicklungslinien, Kausalitäten und Zusammenhänge im Geschichtsverlauf deutlich. Manchmal kann dabei der Eindruck entstehen, dass der Geschichte eine gewisse Gesetzmäßigkeit innewohnt, dass sie ein Ziel verfolgt und einzelne historische Ereignisse in logischer Verkettung geradewegs auf dieses Ziel zusteuern. Doch dieser Umkehrschluss ist trügerisch und verstellt den Blick auf die Tatsache, dass Geschichte menschengemacht und das Ergebnis konkreter Entscheidungen und Handlungen ist. Geschichte obliegt keiner Gesetzmäßigkeit, keinem Plan und insofern stellt sie – bzw. die Gegenwart als die Geschichte von morgen – für jeden einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzes eine Herausforderung dar: denn dann gibt es Spielräume, Optionen und Entscheidungsmöglichkeiten, die es auszuloten gilt. Diese durch Kontingenz geprägte Gemengelage tritt besonders an historischen Wendepunkten zum Vorschein.
Hier setzt das Projekt „Vergangene Zukunft“ digital an. In unserem Pilotprojekt wollen wir als neuer Verbundpartner bei museum4punkt0 das Potenzial von digitalen Spielen in den Fokus nehmen, denn gerade im Spiel – so unsere Annahme – wird dieses Entscheidungsspektrum erfahrbar. Hier entscheiden die SpielerInnen, welchen Verlauf die Geschehnisse nehmen, hier zeigen sich daraus resultierende kurz- und langfristige Konsequenzen und – anders als in der Realität – kann hier der Reset-Knopf gedrückt und alles auf Anfang gesetzt werden: Die NutzerInnen können das gleiche Spiel erneut unter anderen Vorzeichen durchlaufen. Im Spiel steht das Mögliche, nicht das Faktische im Vordergrund. Historische Objekte sind als Relikte ihrer Zeit Ausdruck des Faktischen; unserer Ansicht nach liegt der Wert der digitalen Medien in ihrem Potenzial zur Darstellung des Möglichen. Unser Augenmerk richtet sich vor allem auf den wachsenden Bereich der Serious Games, deren „Ernst“ darin besteht, dass sie Spielinhalte mit Lerninhalten, also Unterhaltung und Erkenntnisgewinn verbinden. Die vermutlich älteste Form der Serious Games ist übrigens das „Kriegsspiel“ – im 19. Jahrhundert von der Preußischen Armee entwickelt, um das Durchspielen von Schlachten zu trainieren.
Im Rahmen des Verbundprojekts museum4punkt0 wollen wir bis zum Jahresende 2021 einen digitalen Prototyp entwickeln, der spielerisch und interaktiv vermittelt, dass der Geschichtsverlauf ein offener Prozess ist und für die Menschen in der Vergangenheit die Zukunft ebenso offen war wie für uns heute. Der Prototyp entsteht im Kontext der Interimsausstellung „Roads not taken. Imaginierte Wendepunkte deutscher Geschichte“ (Arbeitstitel). Dieses Ausstellungsprojekt steht vor dem Hintergrund der ab Ende Juni 2021 anstehenden sanierungsbedingten Schließung des Zeughauses Unter den Linden, in dem seit 2006 unsere Dauerausstellung „Deutsche Geschichte vom Mittelalter bis zum Mauerfall“ zu sehen ist. Wir zeigen „Roads not taken“ ab Herbst 2022 in unserer Ausstellungshalle im angrenzenden Pei-Bau und werden hier den funktionsfähigen Prototypen implementieren, testen und im Hinblick auf die neue Dauerausstellung, deren Eröffnung für 2025 geplant ist, möglichst nachhaltig nutzbar machen.
Der Arbeitstitel „Roads not taken“ der Interimsausstellung ist programmatisch zu verstehen. Das Ausstellungsvorhaben soll die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Entscheidungssituationen präsentieren – mit der Fragestellung, welche alternativen Wege in dramatischen historischen Wendepunkten möglich gewesen wären. Der von uns entwickelte Prototyp „Vergangene Zukunft“ digital passt sich in dieses Konzept ein. Er soll die Spannung zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, die einen originellen Blick auf bekannte Ereignisse der deutschen Vergangenheit freigibt, optimal unterstützen.
Abgesehen von der Prämisse, dass die digitale Anwendung primär vor Ort nutzbar sein und in direkter Beziehung zu den Sammlungsobjekten stehen soll, wollen wir den EntwicklerInnen einen großen Gestaltungsspielraum ermöglichen. Für die Konzeptentwicklung stellen wir in einem Wettbewerb zwei Wendepunkte zur Wahl: „Das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944“ und „Weltwirtschaftskrise: Die Deflationspolitik der Regierung Brüning und zeitgenössische Alternativen“.
Anhaltspunkte für mögliche Szenarien der digitalen Anwendung können historische Dokumente, Fotografien, Gemälde, Grafiken, aber auch dreidimensionale Objekte aus den Sammlungen des Deutschen Historischen Museums sein. Ein möglicher Ausgangspunkt für den Wendepunkt „Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944“ könnte Felix Nussbaums Gemälde „Selbstporträt im Versteck“ sein, entstanden 1944 in Brüssel.
Neben Nussbaum sind darauf seine Ehefrau Felka Platek sowie ein Junge namens Jaqui zu sehen. Am 20. Juli 1944, dem Tag des Attentats, befanden sich Felix Nussbaum und Felka Platek in ihrem Versteck in Brüssel. Einen Tag später, am 21. Juli 1944, wurden sie entdeckt, in ein Sammellager der SS nach Mechelen deportiert und später nach Auschwitz-Birkenau, wo sie ermordet wurden. Hätte ein gelungenes Attentat die Weichen für ihr Schicksal anders gestellt?
Unser Team ist gespannt, in welche Richtung sich „Vergangene Zukunft“ digital in den kommenden Monaten entwickeln wird. Wie die Anwendung „aussehen“ wird, auf welchem Gebiet oder Gebieten die Anwendung neue und experimentelle Wege beschreitet, auf welche Weise sie Kommunikation zwischen den NutzerInnen hervorrufen wird – unmittelbar oder technisch vermittelt, synchron oder asynchron, sprachbasiert oder nicht – all dies sind offene Fragen, für die wir in einem iterativen Entwicklungsprozess und im intensiven Austausch mit Projekt- und VerbundpartnerInnen innovative Lösungen finden wollen.
Beitrag von: Elisabeth Breitkopf-Bruckschen und Ulrike Kuschel