4. Juni 2020
Technische Umsetzung, Vermittlungskonzepte

Vermittlungs-Chance VR – wertvolle Ergänzung des Museumsbesuchs?

Im Rahmen von „museum4punkt0“ setzte sich das Projektteam am Deutschen Auswandererhaus intensiv mit Vermittlungschancen durch Virtual Reality auseinander.

Grafische Datenauswertung
Die Ergebnisse des Geneva Emotion Wheel zeigen die von den StudienteilnehmerI*innen empfundenen Emotionen und die durchschnittlich angegebene Intensität, Grafik: Statistik Deutsches Auswandererhaus / Geneva Emotion Wheel (GEW): siehe Scherer, 2005; Scherer, Fontaine, Sacharin & Soriano, 2013

Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven arbeitet seit jeher mit modernen, multimedialen Vermittlungsformen und war daher gespannt, digitales Neuland zu betreten. In einem Ausstellungsexperiment beleuchtete das Projektteam im Rahmen des Verbundprojekts „museum4punkt0“ die Wirkung von Virtual Reality (VR) auf das Besuchserlebnis. Magdalena Gerwien hat darüber mit Museumsdirektorin Dr. Simone Eick gesprochen.

Rednerin vor Publikum in einem Vortragssaal
Thematische Einführung durch Dr. Simone Eick bei der Vernissage zum Ausstellungsexperiment „KRIEGsgefangen. OHNMACHT. SEHNSUCHT. 1914-1921“, Foto: Deutsches Auswandererhaus / Lena Kikker, CC-BY 4.0

Frau Eick, mit welchen Fragen sind Sie und die MitarbeiterInnen des Deutschen Auswandererhauses 2017 in das Projekt „museum4punkt0 – Digitale Strategien für das Museum der Zukunft“ gestartet?

Wir haben damals sehr viel diskutiert – zunächst miteinander im Team und dann auch mit internationalen ExpertInnen, zum Beispiel aus der Psychologie und der Ethik. Eine der zentralen Fragen für uns war, welchen Mehrwert eine virtuelle Realität im Museum bieten kann. Das waren sehr spannende Diskussionen und eine Frage führte zur nächsten. Letztlich mussten wir feststellen, dass wir recht unwissend waren: Kann man mithilfe von Virtual Reality im Museum lernen – und wenn ja, wie? Wie nehmen BesucherInnen digitalisierte Museumsobjekte im Unterschied zu den Originalen wahr? Und kann man VR in einen Ausstellungsrundgang so einbinden, dass es Teil des Ganzen und kein Appendix ist?

Fünf Männer sitzen auf Stühlen auf einem Podium und diskutieren
Podiumsdiskussion über Virtual Reality mit Dr. Jonathan Harth (Universität Witten/Herdecke), Dr. Cade McCall (University of York, UK) und Dr. Thilo Hagendorff (Universität Tübingen), Foto: Deutsches Auswandererhaus / Teresa Grunwald, CC-BY 4.0

Von diesen Fragen ausgehend beschlossen wir, ein Experiment durchzuführen: Wir wollten eine Ausstellung aufbauen, in der wir Inszenierung, Originalobjekte und Virtual Reality-Anwendungen vergleichbar nebeneinanderstellten. In einer Studie sollte dann die jeweilige Wirkung dieser drei Vermittlungsarten auf die BesucherInnen untersucht werden.

Bei der Entwicklung dieser experimentellen Ausstellung und der Studie war Ihnen der Migrationsaspekt, als Kernthema Ihres Museums, wichtig. Wie vertrug sich die digitale Vermittlungsform mit diesem komplexen Thema?

Hier sahen wir einen entscheiden Vorteil der Virtual Reality: Es ist eine Technologie, der nachgesagt wird, immaterielle Aspekte sichtbar machen zu können. Immaterielles, wie Gedanken und Gefühle, spielen im Migrationsprozess eine große Rolle: seien es Entscheidungen, die MigrantInnen treffen, oder sei es in den Diskussionen, die Einwanderungsgesellschaften führen. Gerade am Deutschen Auswandererhaus mit seiner Sammlung, deren Objekte oft migrantische Biographie- und Mentalitätsgeschichte widerspiegeln, lag in der Virtual Reality die Chance, Gefühle und Gedanken vermitteln zu können – vor allem bei BesucherInnen, die Texte weder gerne lesen noch gerne hören.

Frau mit einem Einhandhörer vor einer Vitrine mit historischen Objekten.
Hörstation im Ausstellungsraum „Galerie der 7 Millionen“, Foto: Deutsches Auswandererhaus, CC-BY 4.0

Ausgewählt als Thema haben wir schließlich Zwangsmigration am Beispiel von Kriegsgefangenschaft. Zu diesem Thema besitzt das Deutsche Auswandererhaus ein umfangreiches Konvolut des Hamburgers August Schlicht, der sich zwischen 1914 und 1920 sechs Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Aus dieser Zeit sind 251 Briefe und Postkarten an seine Frau erhalten.

In der Ausstellung ging es um die emotionalen Folgen von Kriegsgefangenschaft auf einen Menschen. Zwei Emotionen, die in den Briefen von August Schlicht eine permanente Rolle spielen, sind Ohnmacht und Sehnsucht – Gefühle, die sich bei unseren weiteren Quellenrecherchen auch bei anderen ZwangsmigrantInnen immer wieder finden lassen.

Wie verlief die Studie?

Jedes der beiden Gefühle „Ohnmacht“ und „Sehnsucht“ wurde zum einen mithilfe klassischer musealer Präsentationsformen – wie originalen Objekten und Hörstationen – gezeigt, zum anderen mittels inhaltsgleicher VR-Anwendungen. Den TeilnehmerInnen der Studie wurde jeweils eine der Emotionen digital, also durch eine VR-Anwendung, die andere analog vermittelt. Beides war eingebettet in einen inszenierten Raum, der einem bürgerlichen Wohnzimmer aus der Zeit des Ersten Weltkriegs nachempfunden war und Hintergrundinformationen zum Ersten Weltkrieg und der Familie Schlicht bot. Denn VR sollte so getestet werden, dass sie als eine von vielen Vermittlungstechniken innerhalb des Museumsrundganges eingesetzt werden kann. Anhand von schriftlichen Vorher- und Nachher-Befragungen sowie Fokusgruppen-Interviews wollten wir herausfinden, wie die verschiedenen Vermittlungsmethoden das Besuchs- und Lernerlebnis prägen.

Hatten Sie eine hohe Resonanz bei den mitwirkenden BesucherInnen?

Ja, mehr als 700 Personen nahmen an der Studie teil. Wir sind sehr dankbar dafür, dass all diese Menschen uns ihre Zeit und Meinung geschenkt haben.

Auch viele unserer MitarbeiterInnen waren in dieses neuartige Experiment einbezogen. Mehr als 30 Personen – von der Gästebetreuung über die Haustechnik bis zur Wissenschaft – wirkten ständig oder immer wieder mit großem Engagement an der Studie mit und ermöglichten ihre Umsetzung. Denn die Studie fand nicht in einer ruhigen universitären Umgebung statt, sondern im laufenden Betrieb eines gut besuchten Museums mit all seinen zusätzlichen Veranstaltungen.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

In unserem Experiment erwies sich Virtual Reality als effektive Methode, bei den BesucherInnen positive Emotionen zu wecken und ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. So wurden die VR-Anwendungen als unterhaltsamer und vergnüglicher empfunden als die traditionellen Präsentationsformen mit Texttafeln und Hörstationen. Diese positiven Empfindungen beziehen sich auf das Vermittlungsinstrument als solches und nicht auf den ernsten Inhalt, der damit transportiert wird. VR kann somit einen wertvollen Beitrag zur Zufriedenheit der BesucherInnen leisten. Dabei schätzten die StudienteilnehmerInnen insbesondere die Möglichkeit, durch interaktive Elemente die virtuelle Welt selbst beeinflussen zu können, statt nur passiv daran teilzuhaben.

Gleichwohl konnten die BesucherInnen in den traditionellen Ausstellungsräumen besser als in den VR-Anwendungen nachvollziehen, wie sich der Soldat in der Zwangsmigration gefühlt haben mag. Wir sprechen hierbei von „kognitiver Empathie“ – verstehen, wie jemand anderes sich fühlt –  im Gegensatz zu „affektiver Empathie“, wo es darum geht, selbst zu fühlen, wie jemand anderes sich fühlt. Die mit der Geschichte von August Schlicht verbundenen Emotionen, wie Trauer und Enttäuschung, erzielten bei den traditionellen Präsentationsformen entsprechend höhere Werte als bei den VR-Anwendungen. Auch lösten die originalen Objekte bei den TeilnehmerInnen häufiger Erinnerungen, Erkenntnisse oder Gefühle aus – wurden also als bedeutungsvoller empfunden – als ihre digitalen Reproduktionen in der virtuellen Welt.

Das Alter spielte hinsichtlich der Wirkung von VR im Übrigen keine nennenswerte Rolle: Jüngere wie ältere BesucherInnen reagierten emotional ähnlich, konnten also offenbar gleichermaßen einen Zugang zu Virtual Reality finden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass VR-Anwendungen eine wertvolle Ergänzung des klassischen Museumsbesuchs mit Originalen sein können – beides also seine Stärken und Berechtigung hat.

Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere am Verbundprojekt „museum4punkt0“?

Das Projekt ist eine großartige Möglichkeit, neue Technologien und digitale Ideen testen und umsetzen zu können, für die ich der Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters, sehr dankbar bin. Diese Chance, etwas ausprobieren zu können, ohne gleich radikale und kostspielige Veränderungen umsetzen zu müssen, ist einmalig. Und da das Projekt museum4punkt0 so angelegt ist, dass alle Ergebnisse allen Museen in Deutschland zur Verfügung gestellt werden, ist eine nachhaltige Nutzung der Erfahrungen möglich. In diesem Sinne hoffe ich, dass die vorliegenden Ergebnisse nicht nur uns MuseumsmacherInnen, sondern auch unseren BesucherInnen viele neue Ideen für (noch) schönere und spannendere Museumserlebnisse schenken.

Wo lassen sich die Studienergebnisse finden?

Die Studie gibt es als pdf-Download kostenfrei auf unserer Webseite: www.dah-bremerhaven.de/vr-studie.

Vielen Dank für das Gespräch!

Cover einer Publikation mit Titel und Titelbild
Cover der Studie „Berührt es mich?“, Foto: Deutsches Auswandererhaus, CC-BY 4.0

Ein Beitrag von Dr. Simone Eick, Magdalena Gerwien und Birgit Burghart

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